Literaturwerkstatt

Die Nacht war kalt. Die Wölfe heulten.

Der eisige Wind ließ ihre Zehen taub werden. Sie hatte jegliches Gefühl dafür verloren, wie lange sie schon unterwegs war. Wichtig war nur das kleine Päckchen, das sie im Lederbeutel bei sich trug. Sie musste es beschützen, musste um jeden Preis verhindern, dass es Wendel in die Hände fiel.

Sie hatte schon einmal versagt und gesehen, zu was dieser Zauberer fähig war. Noch immer fragte sie sich, wie er das Amulett hatte entdecken können. Generationen von Wächtern hatten es bewacht und immer gut versteckt. Nur sie war gescheitert. Nie würde sie den Anblick des riesigen Wolfes vergessen, in den er sich verwandelt hatte, die blutunterlaufenen Augen, die mächtigen Pranken und die tödlichen Reißzähne. Es schien, als hätte er die Macht des Amuletts noch verstärkt.

Nur durch eine List hatte sie ihm das Schmuckstück entwenden können. Nun musste sie es abermals an einen sicheren Ort bringen. Doch dieses Mal würde sie sichergehen, dass es niemals gefunden werden würde. Es war strengstens verboten, das Amulett wegzubringen. Großes Unheil würde das Dorf in diesem Fall heimsuchen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als im nahegelegenen Wald nach einem Versteck zu suchen.

Erschöpft legte sie ihre Flügel an und ließ sich auf einem Ast des großen Baumes in der Mitte des Waldes nieder. „Der Ahne“ nannten ihn die Dorfbewohner, denn er stand seit Menschengedenken auf dieser Lichtung. Kein anderer Baum wuchs in seinem Umkreis, nicht einmal ein Busch. Nur Moos bedeckte den steinigen Boden.

Bei diesem Wetter war sie dankbar für das dichte Federkleid. Es hielt die Kälte zuverlässig ab. Das Blätterdach des Baumes schützte sie vor den Böen. Sie gönnte sich eine kurze Verschnaufpause, dann prüfte sie den Knoten um ihr Bein. Den alten Göttern sei dank war er noch so fest, wie sie ihn sich vor ihrer Verwandlung angelegt hatte. Auch der Lederbeutel daran und sein wertvoller Inhalt waren unbeschädigt.

Sie suchte den Stamm nach Baumhöhlen ab. So alt wie „der Ahne“ war, musste es unzählige davon geben. Plötzlich flog ein kleiner Vogel an ihr vorbei und verfehlte sie nur um Haaresbreite. Ihre Eulen – Instinkte schrien danach, die Beute zu verfolgen, sodass sie alle menschliche Vernunft aufbringen musste, sich zu beherrschen.

Während ihre scharfen Augen noch auf das kleine Tier gerichtet waren, bemerkte sie die Unebenheit des Stammes nicht weit von ihrer Position entfernt. Mit wenigen kräftigen Flügelschlägen hatte sie die kleine Höhle erreicht.

Vorsichtig begann sie, den Knoten des Beutels an ihrem Bein zu lösen. In wenigen Augenblicken würde sie wieder ein Mensch sein. Vertieft in die anstrengende Arbeit, den Verschluss mit Krallen und Schnabel zu lockern, bemerkte sie nicht, dass der kleine Vogel sich neugierig genähert hatte. Plötzlich schoss die kleine Gestalt an ihr vorbei. Erschrocken ließ sie den Beutel los und das Amulett rutschte in die Baumhöhle. „Nein!“, wollte sie schreien, doch aus ihrer Kehle drang nur das aufgeregte Rufen einer Eule. Verzweifelt sah sie in die Vertiefung des Stamms. Das Schmuckstück war einen guten Meter nach unten gefallen – zu tief, als dass eine Eule oder ein Mensch es herausholen könnte. Ohne es hatte sie keine Chance, sich zurückzuverwandeln. „Wenigstens ist es jetzt sicher“, dachte sie traurig.

Im Geäst über ihr zwitscherte der Vogel aufgeregt. Diesmal hielt sie ihre Instinkte nicht im Zaum. Es war Zeit für das Abendessen.

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